SKILLS FACTORY, Samos

Hier stellen wir humanitäre Hilfe selbst her:
eigenhändig. lokal. nachhaltig. unabhängig. ehrlich.

In dem geschlossenen Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Samos mangelt es an allem. Aber die Menschen, die in diesem Elend leben, bringen das Wissen und die Fähigkeiten mit, all das was sie brauchen, selbst herzustellen. Und die fruchtbare Insel Samos liefert die nötigen Rohstoffe dazu. 

Und genau da kommt die «SKILLS FACTORY» ins Spiel.

In unseren Werkstätten wird miteinander gearbeitet, gelernt, Wissen weitergeben, gelacht und innovative Lösungen entwickelt. Dabei werden Produkte hergestellt, mit denen die aktuelle Lebenssituation direkt verbessert und humanitäres Leiden gelindert wird. So durchbrechen wir den Teufelskreis der Abhängigkeit.

Unsere Workshops

Die handwerklichen Fähigkeiten welche unsere Teilnehmenden mitbringen, bilden die Grundlage der Werkstätten. Gleichzeitig übernehmen sie die Leitung dieser Bereiche.

Hier einige Beispiele für Berufsfelder, in welchen geflüchtete Menschen Erfahrungen mitbringen, die aber auch traditionellerweise auf der Insel verankert sind. Wir sind flexibel und passen den Betrieb laufend den Menschen und ihren Bedürfnissen an.

Bauarbeiten​

Holzwerkstatt​

Metall Werkstatt

Bike Workshop

Electro-Repair​

Textilwerkstatt​

Küche & Bäckerei

Gärtnerei

Barber-Workshop

Kunst Atelier

Film & Fotographie

mehr...

Unser Impact

Vorhandene Lücken im Helfersystem werden von der Community selbst gedeckt.

Positiver Einfluss auf die Lebensbedingungen und die Versorgungslage von geflüchteten Menschen im Lager sowie hilfsbedürftigen Einheimischen gleichermassen.

Verbesserte psychische Gesundheit durch Tagesstruktur, Aufgabe und Verantwortung

Selbstermächtigung und Stärkung der Identität durch Wahrnehmen und Wertschätzen der beruflichen Vergangenheit und Expertise.

Verbesserte Chancen auf Arbeitsmarktintegration in Griechenland oder der EU.

Das Interesse am Handwerk baut Brücken zwischen Menschen und Kulturen.

Nutzung lokaler Produkte fördert die lokale Landwirtschaft.

Verminderung der Importe und Abfallvolumen.

Ausgangslage

Das neue «geschlossene Flüchtlingslager mit kontrolliertem Zugang»

Am 18. September 2021 wurde auf der Griechischen Insel Samos das neue «Closed Controlled Access»-Flüchtlingscenter eröffnet. Ein Millionenprojekt der EU, das die Situation für die Geflüchteten eigentlich hätte verbessern sollen (The Guardian, 2021). In der Realität jedoch mangelt es an vielem. Das Camp liegt völlig abgeschottet zwischen Hügeln und erinnert mit seinen hohen Drahtzäunen und den streng bewachten Eingangskontrollen an ein Hochsicherheitsgefängnis.

Die Lebensbedingungen sind vernichtend. Die Menschen leben wie Gefangene in totaler Isolation, fernab der Zivilisation, in unfertigen und mangelhaften Unterkünften. Die neu gebauten Küchen sind nur selten funktionstüchtig, das im Camp verteilte Essen reicht nicht aus. Durchschnittlich verharren die Asylsuchenden bis zu zwei Jahren unter diesen Bedingungen, bevor sie einen Entscheid über ihren Antrag erhalten. «Das neue Camp ist wie ein Gefängnis», verkündeten auch die Ärzte ohne Grenzen (MSF in ANSA, 2021).

Bestehende Hilfsangebote und die Lücken

Mit der Eröffnung des neuen Flüchtlingslagers, weit abseits des Städtchen Vathy haben viele der ehemals aktiven NGOs die Insel verlassen.

Diejenigen, die geblieben sind, übernehmen noch immer essenzielle Aufgaben, von der Gesundheitsversorgung über die informelle Schulbildung für alle Altersgruppen, Kleidungs- und Essensausgabe für besonders vulnerable Gruppen, bis zu juristischer Beratung und psychosozialer Unterstützung.

Doch die meisten der Organisationen operieren im oder am neuen Camp, ohne eine Alternative zur Isolation zu bieten. Die wenigsten der Angebote richten sich an die Männer im Camp, welche aktuell knapp 75% aller Geflüchteten ausmachen.   

«Alles auf dieser Insel ist für Kinder und Frauen
– ausser die Kondome»

Feedback von einem männlichen Bewohner.

Bei den wenigen bestehenden Angeboten finden sie sich jeweils in der Rolle der «Nehmenden» wieder, es fehlt jedoch die Möglichkeit aktiv zu werden und selbst etwas an der Situation zu ändern.

Männer – die übersehene vulnerable Gruppe

Alleinreisende Männer werden in Europa oftmals als bedrohlich wahrgenommen. Dementsprechend werden sie von der Gemeinschaft und den Behörden auch behandelt. Dabei geht oftmals die Tatsache vergessen, dass das Fehlen des Unterstützungssystems Familie in diesen schwierigen, oftmals traumatisierenden Lebensumständen sie besonderen Gefahren aussetzt. Zudem stehen viele unter dem zusätzlichen Erwartungsdruck in Europa erfolgreich zu sein und die Familie aus der Ferne zu unterstützen. Ohne diesen Halt weisen Alleinreisende Männer ein erhöhtes Risiko auf, psychische Erkrankungen zu entwickeln, Aggressionen auszuüben (gegen sich selbst oder gegen andere) oder Suchtmittel zu konsumieren (Europe Must Act, 2020, S. 44).

Aber auch diejenigen Männer, die mit ihrer Familie geflüchtet sind, leiden unter dem Verlust der traditionellen Rolle und Identität als Beschützer und Ernährer. Beides können sie in diesem Umfeld nicht erfüllen. Stattdessen werden sie gezwungen, stundenlang anzustehen, um Hilfeleistungen entgegenzunehmen. Diese Rollenverschiebung (vom Geber zum Nehmer) kann zu gravierenden Identitätskrisen führen, ausgelöst durch das Gefühl die Erwartungen als Familienoberhaupt nicht erfüllen zu können, wie es Turner in seinem Report «UNHCR is a better husband» eindrücklich beschreibt.

Einfluss auf die lokale Bevölkerung von Samos

Auf der Insel leben rund 33’000 permanente Einwohner*innen. Aufgrund der topographischen Lage ist Samos aussergewöhnlich regen- und sonnenreich, was die Erde besonders fruchtbar macht.  Der stärkste Wirtschaftssektor ist daher traditionellerweise die Landwirtschaft.

Die vergangenen ökonomischen Krisen Griechenlands haben die abgelegenen Inseln besonders hart getroffen. Die stetige Abwanderung der (mehrheitlich jungen) Bevölkerung führte zu einer Überalterung der Gesellschaft. Die Bewirtschaftung der Felder und handwerklichen Produktionen verkümmern als Folge dessen fortlaufend. Viele Betriebe mussten bereits schliessen, wie zum Beispiel jene zur Herstellung von Leder und Tabak.

Stattdessen wurde der Tourismus zur wichtigsten Einnahmequelle. Doch als Folge der Flüchtlingskrise blieben viele Tourist*innen und damit auch das jährliche Einkommen der Samianer*innen aus. Bereits 2019 hatten einige Einheimische Mühe die Rechnungen zu bezahlen, um ihre Geschäfte zu halten (Euro.News, 2019). Die anschliessende Corona Krise 2020, gefolgt vom Erdbeben der Stärke 7.0 zerstörte nicht nur hunderte Häuser, sondern auch zahlreiche Existenzen (Europäisches Parlament, 2020).

Und auch wenn viele der Inselbewohner*innen grosse Solidarität mit den geflüchteten Menschen zeigen, werden mit der sich stetig verschlechternden Wirtschaftslage und der über Jahre anhaltenden Situation ohne Aussicht auf Besserung auch aggressive Stimmen laut. Insbesondere in der Stadt Vathy, wo alle dicht an dicht leben, nehmen die Spannungen zu. 

Jährliche Traubenernte, Weinkooperative Samos (Herbst 2020)

Import von Hilfsgütern

Ein Grossteil der Hilfsgüter wird auf dem Festland oder sogar im Ausland hergestellt und tonnenweise importiert. Es landen Container voller abgepacktem und tiefgefrorenem Essen, Kleiderspenden, Hygieneartikel, Früchte und Gemüse, Babynahrung in Plastikbeuteln, Plastikflaschen und Billigsnacks aus Discountern im Lager und die Hilfsgelder fliessen zurück ins Ausland.

Die lokale Bevölkerung ist kaum an der Produktion beteiligt, Restaurants stehen insbesondere aufgrund der aktuellen Corona Krise leer. Für einige Bauern lohnt es sich nicht einmal mehr die Orangen zu ernten, ihre Produkte können mit den Preisen von Billigdiscountern wie Lidl nicht mithalten.

Eine weitere Belastung für die Insel entsteht durch die Verpackungen der Hilfsmaterialien und dem daraus resultierenden Abfall. Allein im Camp werden jeden Tag Mahlzeiten sowie mehrere Wasserflaschen für die 3’500 Personen ausgeteilt, alles verpackt in Plastik oder Aluschalen (Mayer, 2020).

Globale Perspektive

Der Verein «selfm.aid» ist der Überzeugung, dass der Klimawandel und die Flüchtlingskrise nicht unabhängig voneinander betrachtet und adressiert werden können.

Beide Phänomene stehen im direkten Zusammenhang mit übermässigem Konsum und der Verschwendung lokaler Ressourcen. Um eine nachhaltige Lösung für zukünftige Generationen erarbeiten zu können, benötigt es alternative Konzepte, die den gegebenen Ressourcen wieder mehr Wertschätzung schenken und lokale Netzwerke stärken.

"Denn nur starke, lokale Gemeinschaften, werden in der Lage sein, die globalen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern."

Und genau da setzt die «SKILLS FACTORY» an.